· 

bundesverfassungs-gericht - zum nachkochen

ich habe den bundesverfassungsgerichtsbeschluss - 1 BvR 2019/16 [link] - gerne und viel gelesen. für einen juratext finde ich ihn echt ziemlich lesbar. das oberste gericht muss wohl immer ausführlich die hintergründe erklären und dafür gut recherchieren: sie haben etwas zur rechtsgeschichte geschrieben. sie haben etwas zu den wissensständen und einschätzungen verschiedener institutionen, menschen mit expertise und sogar religionsgemeinschaften (ev./kath.) geschrieben. sie erklären, wie das grundgesetz gemeint ist und welche rechte die menschen im land deswegen haben.

 

das alles ist auf vielen seiten festgehalten.

 

mit den "randnummern" (rn. 123) sind die verschiedenen absätze des beschlusses gekennzeichnet. hier meine lieblingsstellen (und warum):

die bundesregierung war bestens vorbereitet!

 

das ist wichtig, weil die verantwortlichen im bundestag 2018 immer wieder gesagt haben, dass sie echt wenig zeit hatten, um die aufgabe des gerichts zu bearbeiten.

 

das gericht beschreibt aber schon im oktober 2017 die vorgeschichte: 2011/12 hat sich die damalige regierung vom ethikrat beraten lassen. es ging um "intersexualität". schon da war klar, dass es änderungen im personenstandsrecht braucht. weil nur zwei einträge "weiblich" und "männlich" - das reichte halt hinten und vorne nicht.

 

2013 wurden am personenstandsgesetz umfangreiche änderungen vorgenommen. von den ethikrat-sachen wurde dabei nur ein ganz kleiner teil umgesetzt und der nicht mal so richtig gut. ab sofort sollten kinder, die nach medizinischen maßstäben nicht als "weiblich" oder "männlich" einsortiert werden konnten, keinen eintrag unter "geschlecht" bekommen. der unterstrich im recht, die leerstelle, war geboren.

 

(warum der pstg § 22 absatz 3 eine schlechte idee war? weil der ethikrat ermittelt hatte, dass von den menschen, die von der medizin oft als "intergeschlechtlich" einsortiert werden, ein teil weiblich ist, ein teil männlich und ein teil keins von beidem. was gut daran war? dass damit vielleicht ein grundstein gelegt wurde, dass in kliniken weniger an babies rumoperiert wird, damit sie besser in die zwei kategorien von geschlecht passen. dazu am ende mehr.)

 

die regierung wurde 2012 gefragt, warum sie nicht mehr von den ethikrat-empfehlungen umsetzt. sie sagte damals: "ach, die gesetzgebung ist doch schon fast fertig... wir haben verstanden, dass das thema komplex ist. wir machen jetzt nochmal eine arbeitsgruppe, die das ganze vertieft. sie soll sich dieses mal um zwei themenfelder kümmern: trans- und intersexualität."

 

und so geschah es ab 2014.

 

im juli 2017 hat das dafür zuständige familienministerium das 12. und letzte dokument dieser arbeitsgruppe veröffentlicht: die zusammenfassung aller arbeitsergebnisse. [link]

randnummer 5 | im wortlaut - gekürzt

 

Im Jahr 2010 erteilten das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium für Gesundheit dem Deutschen Ethikrat den Auftrag, im Dialog mit den von Intersexualität betroffenen Menschen eine Stellungnahme zur Situation intergeschlechtlicher Personen in Deutschland zu verfassen. Im Februar 2012 legte der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme vor: Dort heißt es zusammenfassend

(BTDrucks 17/9088, S. 59):

 

„Der Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht weiblich noch männlich zuordnen können, rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen.

 

1. Es sollte geregelt werden, dass bei Personen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Eintragung als „weiblich“ oder „männlich“ auch „anderes“ gewählt werden kann. Zusätzlich sollte geregelt werden, dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat. Der Gesetzgeber sollte ein Höchstalter der betroffenen Person festlegen, bis zu dem sie sich zu entscheiden hat.

 

2. Es sollte über die bestehende Möglichkeit der Änderung eines Eintrags nach § 47 Absatz 2 PStG hinaus geregelt werden, dass die Betroffenen eine Änderung des Eintrags verlangen können, wenn sich die bisherige Eintragung als unrichtig herausgestellt hat. (...)“

 

randnummer 6 | im wortlaut - ausschnitt, gekürzt
Die Bundesregierung bekundete (...2012...), die Probleme der Betroffenen und die Stellungnahme des Ethikrats sehr ernst zu nehmen. Eine Lösung der komplexen Probleme (...) könne in diesem schon weit fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren [PStG, ab 2013 in Kraft] nicht kurzfristig gefunden werden. Vor einer Neuregelung wären umfassende Anhörungen von Betroffenen und Sachverständigen durchzuführen.

die wissenschaft hat festgestellt...

 

...kurz gesagt: geschlecht lässt sich nicht anhand körperlicher merkmale messen, testen oder darüber herstellen. da spielen viele faktoren eine rolle.

 

sooo neu ist diese "erkenntnis" auch wieder nicht. 1981 wurde schließlich schonmal der korrekturbedarf beim geschlechtseintrag verstanden und im tsg festgehalten.

 

(tsg = "gesetz über die änderung der vornamen und die feststellung der geschlechtszugehörigkeit in besonderen fällen").

 

und auch 2011 erklärte das bundesverfassungsgericht den gesetzgebenden (1 BvR 3295/07), dass eine änderung des geschlechtseintrags nicht von körperlichen voraussetzungen abhängig gemacht werden darf! [link]

randnummer 9 | ausschnitt - gekürzt

 

In den medizinischen und psycho-sozialen Wissenschaften besteht (…) weitgehend Einigkeit darüber, dass sich das Geschlecht nicht allein nach genetisch-anatomisch-chromosomalen Merkmalen bestimmen oder gar herstellen lässt, sondern von sozialen und psychischen Faktoren mitbestimmt wird.

 

2011 - 1 BvR 3295/07 - | randnummer 57 | ausschnitt

 

(...) Die personenstandsrechtliche Anerkennung des empfundenen Geschlechts darf nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, die schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit bedingen und mit gesundheitlichen Risiken verbunden sind, wenn diese nach wissenschaftlichem Kenntnisstand keine notwendige Voraussetzung einer dauerhaften und erkennbaren Änderung der Geschlechtszugehörigkeit sind.


zwing! mich! nicht! jedenfalls nicht so!

 

wenn der staat das geschlecht registrieren will, muss er die entsprechenden inhalte zulassen, die der person entsprechen, deren daten er verwaltet.

 

und ich würde sagen: er muss auch dafür sorge tragen, dass jeder geschlechtseintrag für jede person nutzbar ist, sonst greift er ins persönlichkeitsrecht der person ein.

 

und das wäre nicht okay!

 

randnummer 36 | Ausschnitt

 

(...) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die geschlechtliche Identität auch jener Personen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.

 

In deren Grundrecht wird eingegriffen, weil das geltende Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt.

 

Der Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt.


kein geschlecht darf strukturell benachteiligt bleiben. das gilt nicht nur für "frauen". bei menschen, die weder frau noch mann sind, muss der staat sich derzeit besonders viel mühe geben!

 

artikel 3 des grundgesetzes benennt nur "frauen" und "männer". aber das gericht erklärt, dass das grundgesetz damit alle personen schützt, denen "strukturelle" diskriminierung und benachteiligung aufgrund ihres geschlechts droht.

 

menschen, deren geschlechtliche identität weder frau noch mann ist, sind in einer gesellschaft, in der es nur frau/mann gibt, in einer besonders verletzlichen situation. sagt das gericht.

 

 

ich versteh das so, dass dieser staat sich gegenüber menschen wie mir zu einer ganz besonderen sorgfalt verpflichtet hat, mit dem grundgesetz. jedenfalls so lange "die gesellschaft" in ihrer idee von geschlecht so "binär" ist und handelt.

randnummer 59 | gekürzt

 

Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen (...).

 

Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch.

 

Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG lässt es ohne Weiteres zu, sie in den Schutz einzubeziehen. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG spricht ohne Einschränkung allgemein von „Geschlecht“, was auch ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich sein kann.


die leerstelle ist nichts neues oder rechtlich dramatisches und "betroffene personen" sollen selbst wählen können.

 

das gericht sagt, dass das datenfeld im register eigentlich weg könnte.

 

es bestätigt, dass die möglichkeit, keinen geschlechtseintrag zu haben bereits (seit 2013) besteht.

 

es sagt, wenn die gesetzgebenden weiterhin einen eintrag wollen, sollen die personen, für die "weiblich" oder "männlich" nicht zutreffen, einen anderen eintrag wählen können.

 

reminder: eine wahlmöglichkeit für die optionen "weiblich" und "männlich" gibt es ja schon seit 1981.

 

 

randnummer 65 | gekürzt mit hervorhebungen

 

[Der Gesetzgeber könnte] (...) auf einen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag generell verzichten.

 

Er kann aber stattdessen auch für die betroffenen Personen - zusätzlich zu der bestehenden Option keinen Geschlechtseintrag vorzunehmen (§ 22 Abs. 3 PStG) - die Möglichkeit schaffen, eine einheitliche positive Bezeichnung eines Geschlechts zu wählen, das nicht männlich oder weiblich ist.

 

Die Option eines weiteren Geschlechtseintrags lässt sich gesetzlich auf unterschiedliche Weise ausgestalten. Insbesondere ist der Gesetzgeber nicht auf die Wahl einer der von der antragstellenden Person im fachgerichtlichen Verfahren verfolgten Bezeichnungen beschränkt.


die gesetze haben also schon vor dem bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 10.10.2017 ausgereicht, um meine berichtigungsanzeige zu bearbeiten. dann sollten sie es jetzt erst recht tun, wenn eine dritte option "mit inhalt" und ein drittes verfahren zum pstg §47 und dem tsg hinzugekommen sind.

 

und der staat muss sich aktuell sehr viel mühe geben, denn menschen auf die weder "weiblich" noch "männlich" zutrifft, sind derzeit besonders verletztlich innerhalb der gesellschaft. und da scheint noch ganz schön der wurm drin zu stecken.

 

early bird fängt den wurm…

 

ich mache mich mal an den entwurf eines schreibens ans standesamt.


ich blogge hier zum standesamt und mir. es ist (noch) ganz funny, im dschungel von verstrickten und lückenhaften gesetzlichen regelungen ein einfaches, kleines datenfeld korrigieren zu lassen. dass sich der staat dabei irgendwie windet und es sich selbst schwer macht, korrekte daten vorzuhalten, ist im land der din-normen und schier unendlichen regelungen, schon etwas grotesk bis widersprüchlich.

 

was aber für mich völlig unverständlich ist, ist dass seit 2012 nichts über eine gesetzgebung zum ende der kosmetischen und in wirklichkeit verstümmelnden operationen an den genitalien von "intergeschlechtlichen" säuglingen und kleinkindern zu hören ist. auch die sterilisierenden operationen an hormondrüsen (innenliegende hoden zum beispiel) dürften schon nicht mehr nach dem mythos "oh la la, das gibt krebs, schnell raus damit!" erfolgen. bei amnesty international gibt es dazu den lesenswerten artikel "zurechtgeschnitten" und einen langen reader als pdf. [link]

 

die datensammlung des staates über uns formt unser miteinander, die hierarchien und die selbstverständlichkeiten - auch die vorstellungen von (bislang zwei) geschlechtern. die medizin formt allerdings menschliche körper nach ihren vorstellungen von zwei geschlechtern.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0